Über den Wert unabhängiger Urteile
  
Unglaublich, wie sehr das Netz in den vergangenen 25 Jahren unser Leben durchdrungen hat – mal laut, mal leise, beharrlich, unwiderruflich. Das ist mir noch einmal klar geworden, anlässlich des 25. Geburtstags des Grimme Online Awards, den wir Anfang Oktober feiern konnten.
Das Netz hat unsere Kultur verschoben, unsere Werte herausgefordert und unser Miteinander neu vermessen. Wir lernen anders, denken anders, wirken anders. Auch die Geschichten, die wir uns erzählen, folgen neuen Regeln – den Algorithmen, den Aufmerksamkeiten, den Klicks. Doch wem gehört dieses digitale Terrain eigentlich? Wer bestimmt, was Qualität ist? Und woran lässt sich Glaubwürdigkeit messen in einer Welt, die sich minütlich neu sortiert?
Als das Netz in den späten 1990er Jahren zum Massenphänomen wurde, galt es vielen noch als Spielwiese der Technikbegeisterten – ein Ort der Möglichkeiten, aber nicht der Maßstäbe. Journalismus im Netz – das war ein Widerspruch in sich: flüchtig, unkontrollierbar, zu laut, zu schnell. Und doch war genau diese Unruhe sein größtes Versprechen – der Gedanke, dass sich Öffentlichkeit neu denken lässt: offener, direkter, diverser, demokratischer.
Heute ist aus dem Experiment ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags geworden. Wir informieren uns digital, streiten digital, glauben digital. Und gerade deshalb stellt sich die Frage nach Qualität dringlicher denn je: Was hebt die sorgfältige Recherche von der wohlformulierten Meinung ab? Was unterscheidet journalistische Verantwortung von bloßer Sichtbarkeit?
2001 wurde der Grimme Online Award ins Leben gerufen. Er half, das Netz als publizistisches Medium ernst zu nehmen – zu einer Zeit, als das noch keineswegs selbstverständlich war. Damit begann ein Qualitätsdiskurs über digitale Angebote, der das Feuilleton erreichte und neue Maßstäbe setzte. Früh zeigte sich, dass Journalismus im Netz keine technische, sondern eine kulturelle Frage ist: Er entsteht dort, wo Handwerk auf Haltung trifft, wo jemand den Mut hat, Komplexität auszuhalten. Die Preise für »Telepolis«, »Perlentaucher« oder »Bildblog« sind Beispiele, wie beim Grimme Online Award von Anfang an Projekte eines unabhängigen, kritischen Online-Journalismus gewürdigt wurden – für uns heute selbstverständlich, zum Zeitpunkt der Auszeichnung noch eine Novität. Sie alle stehen für eine Haltung, die dem Netz nicht ausgeliefert ist, sondern es mitgestaltet.
Von Beginn an erkannten die unabhängigen Gremien, Nominierungskommissionen und Jurys die Bedeutung des Bewegtbilds im Netz. Schon im Gründungsjahr wurde mit »Bitfilm« eine Plattform für netzgerechte Filme ausgezeichnet – vier Jahre bevor YouTube online ging.
Doch Qualität braucht mehr als Engagement – sie braucht Resonanzräume. Orte, an denen Arbeit sichtbar wird, die sich dem schnellen Takt widersetzen. Sie braucht unabhängige Jurys, die frei urteilen können und in dieser Hinsicht mehr als bloße Auszeichner sind – am Ende die Garanten der Qualitätsmaßstäbe. In einer Öffentlichkeit, die von Algorithmen sortiert und von Empörung getrieben wird, können sie das schaffen, was der Journalismus immer gebraucht hat – Vertrauen.
Vielleicht ist das die eigentliche Geschichte dieser 25 Jahre Grimme Online Award: dass das Netz uns nicht nur neue Formen der Kommunikation geschenkt hat, sondern auch neue Formen der Verantwortung. Die Verantwortung, Qualität zu erkennen, zu fördern und zu verteidigen. Denn je lauter die Welt wird, desto leiser spricht die Glaubwürdigkeit – und desto wichtiger wird, wer ihr zuhört.
Am Ende bleibt die alte Frage, die in der digitalen Gegenwart nur dringlicher geworden ist: Wem glauben wir – und warum? Die Antwort liegt, wie so oft, in der Unabhängigkeit des Urteilens. Sie ist kein Anachronismus, sondern das Fundament einer Öffentlichkeit, die sich selbst ernst nimmt. Ohne sie verliert das Netz seine Glaubwürdigkeit. Und wir unseren Kompass.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2025.

