Digitale Erinnerungskultur
Kein Rückblick, sondern demokratische Zukunftsgestaltung
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich bin Çiğdem Uzunoğlu, seit Anfang des Jahres Geschäftsführerin und Direktorin des Grimme-Instituts, und ich freue mich darauf, Sie an dem teilhaben zu lassen, was uns in unserer Arbeit bewegt. Und das sind nicht nur Preise!
Wie können Medien im digitalen Zeitalter zur Stärkung der Demokratie beitragen? Digitale Plattformen, soziale Netzwerke und algorithmisch gesteuerte Inhalte verändern grundlegend, wie Kommunikation, Information und Öffentlichkeit funktionieren. Herausforderungen für demokratische Teilhabe und gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie Themen wie digitale Souveränität, algorithmische Transparenz und Medienkompetenz prägen zunehmend unseren Alltag.
Welche Rolle spielen Medien in dieser Entwicklung: Wie beeinflussen sie Debatten? Wie fördern oder behindern sie Teilhabe? Wie lassen sich digitale Räume so gestalten, dass sie demokratische Prinzipien stärken – statt sie zu untergraben?
Zutiefst traurig darüber, dass Margot Friedländer nicht mehr unter uns ist, widme ich mich zum Auftakt einem Thema, das sie unermüdlich aufgezeigt hat: wie wichtig das Erinnern in der Gegenwart für die Zukunft ist. Erinnerungskultur ist kein Rückblick – sie ist aktiver Teil demokratischer Zukunftsgestaltung. Margot Friedländer hat Jahre ihres Lebens der Mahnung und Ermutigung gewidmet: Mensch zu sein, die Demokratie zu schützen, die Erinnerung lebendig zu halten. Und Entwicklungen mit wachsamer Aufmerksamkeit zu verfolgen – besonders, wenn rechtsextreme Stimmen in unserem Land lauter und gesellschaftsfähiger werden.
Erinnerungskultur im digitalen Raum liegt mir seit Langem am Herzen. Digitale Medien eröffnen neue Möglichkeiten des Erinnerns – bergen aber auch das Risiko der Trivialisierung. Entscheidend ist, Formate zu entwickeln, die historische Verantwortung mit zeitgemäßer Ansprache verbinden: verständlich, zugänglich, differenziert.
Die Herausforderung, Erinnerung lebendig zu halten, ist akut – das zeigt etwa die aktuelle MEMO-Studie: 38,1 Prozent der Befragten sprachen sich für einen »Schlussstrich« unter die NS-Zeit aus, nur 37,2 Prozent lehnten dies ab – erstmals eine Minderheit.
An medial vermittelten Erinnerungsformaten führt kein Weg mehr vorbei. Es ist nicht mehr die Frage, ob, sondern wie wir diese gestalten. Auch Digitalkonferenzen wie die re:publica, die ich im Mai besuchte, diskutieren dieses Thema seit Jahren – etwa im Kontext von Medien und Künstlicher Intelligenz (KI).
Immer einfacher ist es geworden, etwa historische Persönlichkeiten zu »reanimieren« und den Sehgewohnheiten einer jungen Zielgruppe Rechnung zu tragen, so getestet beim Online-Format »Deepfake Diaries« des ZDF. Historische Fotos und Archivmaterial wurden ausgewertet, um die Gesichter von Schauspielern mittels KI- und Deepfake-Technologie möglichst exakt an die der historischen Vorbilder anzupassen, etwa von Oskar Schindler.
Gelungenes Experiment oder schon Dammbruch? Immer dringender stellt sich die Frage: Wie können wir nun, da die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weniger werden, ihr Vermächtnis, das in seiner Wirkung so unmittelbar mit ihrem persönlichen Erleben verbunden war und ist, auf eine wirksame, aber würdevolle Weise weitergeben? So, dass es besonders auch die junge Generation erreicht und berührt – eine Generation, die ihr Erleben von Wirklichkeit so viel stärker durch digitale Medien erfährt.
Und mit Blick auf KI: Wie können wir berücksichtigen, dass technische Möglichkeiten neuer digitaler Formate nicht da ausgereizt werden, wo Grenzen zur Unterhaltung oder zu unethischer Darstellung überschritten werden? Und Inhalte so umsetzen, dass Menschen in die (wahren!) Geschichten hineingezogen werden? Wie berücksichtigen wir dabei auch die Erfordernisse unserer Migrationsgesellschaft, wo die Erinnerung an die NS-Zeit teils als bloß »deutsche« Geschichte aufgefasst wird?
Mit diesen und ähnlichen Fragen müssen wir uns als Gesellschaft, als Medienschaffende und -interessierte heute und in der Zukunft stärker auseinandersetzen – gerade auch im Gedenken an Margot Friedländer!
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2025.